Der Status Quo
Berge von Papier und dahinter liegt das Recht. Dieses Bild führten die Verantwortlichen des schweizweiten Grossprojekts Justitia 4.0 bei dessen Lancierung im Februar in Luzern den rund 350 Anwesenden vor Augen. Die Zukunft soll anders aussehen, darin sind sich die Gerichte des Bundes und der Kantone, die Bundesanwaltschaft, die Staatsanwaltschaften, das Bundesamt für Justiz und der Justizvollzug sowie die Schweizer Richter und Anwälte einig. Der gesamte Rechtsverkehr soll bis zum Jahr 2026 elektronisch ablaufen. Ulrich Meyer, Präsident des Bundesgerichts, bezeichnete das Ziel als «historisch für die schweizerische Justizlandschaft». Voraussetzung für das Gelingen und damit eine Verbesserung und Rationalisierung des Systems sei eine Einigung darüber, was konkret gewollt sei. Darum leitet eine zwei Jahre dauernde Phase der Sammlung und Sondierung mit Einbindung der Betroffenen und Interessensvertretern den Prozess ein. Jens Piesbergen, einer der Projektleiter, betonte den transformativen Charakter des Vorhabens. Jacqueline Fehr, Zürcher Regierungsrätin, geht in ihrer Vision noch einen Schritt weiter: Die digitale Transformation erhöhe die Transparenz, steigere die Qualität, erhöhe die Interdisziplinarität, trenne Leistung von Status, öffne Zugänge, mache die Justiz als Arbeitgeber attraktiver und die Betroffenen bescheidener. «Es wird sich unsere Arbeitskultur dadurch ändern», ist das Vorstandsmitglied der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) überzeugt.
Die Digitalisierung
Elektronische Akten ersetzen jene aus Papier. Die sogenannte eJustizakte wird mittels einer entsprechenden Applikation bearbeitet. Zudem dient das Portal Justitia.Swiss dem Datenaustausch zwischen den Rechtsparteien.
Die Vorteile sind unter anderem:
- Jederzeitige Verfügbarkeit aller Daten für alle Berechtigten. Die Akteneinsicht für die Parteien ist erleichtert. Mehrere Personen können gleichzeitig am Dossier arbeiten.
- Stillstände mangels Verfügbarkeit werden vermieden, das Verfahren beschleunigt.
- Das Durchsuchen der Akten und Wiederfinden relevanter Textstellen ist ohne Aufwand möglich.
- Kostenreduktion, weil die Zustellung von Gerichtsurkunden und Prozesseingaben nicht mehr auf dem Postweg erfolgt.
- Platz- und Ressourcenersparnis dank elektronischer Archivierung.
Die Vorbilder
Ein Blick über die Grenze nach Österreich oder in das deutsche Bundesland Baden-Württemberg lässt erahnen, wie man auch hierzulande mit der Digitalisierung der Justiz umgehen könnte. In Österreich wurde 2007 ein Obligatorium für professionelle Nutzer eingeführt, mittels ERV zu kommunizieren. (Der Elektronische Rechtsverkehr ist die papierlose, strukturierte, elektronische Kommunikation im Wege von Übermittlungsstellen zwischen Parteien und Gerichten / Staatsanwaltschaften sowie zwischen Gerichten, Behörden, Rechtsanwälten, Notaren, Banken, Versicherungen und Unternehmen.) Dieser Personenkreis wurde sukzessive erweitert und seit 2012 müssen Rechtsanwälte, Notare, Banken und inländische Versicherungsunternehmen zwingend die elektronische Form einhalten. Damit wurde die Kommunikation mit Papier gänzlich ersetzt. Zu beachten ist, dass der ERV nicht der Übermittlung per Fax oder einfachem E‐Mail gleichkommt, sondern ein eigenes Kommunikationssystem darstellt, in welchem die Berechtigten unterschiedlich Zugriff haben. Der ERV steht jedem offen. Nach Angaben des Bundesministeriums für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz wurden im Jahr 2016 7,6 Millionen elektronische Sendungen über den Rückverkehr (der elektronische Weg vom Gericht zu den Verfahrensbeteiligten) durchgeführt. Das bedeutete eine Ersparnis von mehr als 12 Millionen Euro allein an Postgebühren. 94 Prozent aller Zivilklagen und 76 Prozent aller Exekutionsanträge passierten elektronisch.
Was diese neue Arbeitsweise in der Praxis bedeutet, schilderte Klaus Schurig. Der Richter am Landesgericht Feldkirch zeigte die neue Arbeitsweise in Büro, Kanzlei und Gerichtssaal auf: «Notizen ohne Post-it, eine einfache Suche und eine Übersicht über die fälligen Aufgaben sind nur einige Erleichterungen durch die elektronische Akte. Keiner von uns möchte sie mehr missen», so Schurig. Auch in Baden-Württemberg arbeiten bereits einige Gerichte papierlos. 2018 wurden die elektronischen Gerichtsverfahren für alle Gerichtsbarkeiten in Deutschland grundsätzlich eingeführt. Spätestens 2022 soll der ERV für die professionellen Anwender Pflicht sein.
Der Masterplan
Innerhalb von acht Jahren will man das Ziel erreichen, den ERV schweizweit etablieren. Den Anfang (2019/2020) prägt das Sammeln, Ausloten und Erproben in kleinen Programmen, den sogenannten Sandboxes. Die Erfahrungen fliessen in das Konzept ein, bei dem Fachgruppen und Experten mitwirken. Die Realisierung und Einführung – Rollout, Betrieb und Schulung – passiert in einem ersten Schritt auf Bundesebene, in einem zweiten Schritt auf kantonaler Ebene. Die Projektverantwortlichen – Jens Piesbergen, Jacques Bühler, Vital Meyerm Balawijitha Waeber, Marius Erni – zeigen sich motiviert und optimistisch, die Vorgaben zu schaffen. Parallel zu ihren Anstrengungen komme der Gesetzgebung eine tragende Rolle dabei zu. So soll die gesetzliche Grundlage für die Einführung eines Obligatoriums für die elektronische Kommunikation mit den Justizbehörden und die elektronische Aktenführung erarbeitet werden. Die Federführung liegt beim Bundesamt für Justiz. Die Kantone sind angehalten, in der Folge nachzuziehen.
Rund 30 000 Arbeitsplätze sind von dieser (R)evolution betroffen. Wie hoch die Kosten dafür sein werden, könne man zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Fest steht, dass je zur Hälfte die Justizkonferenz und die KKJPD das Projekt finanzieren, wobei der Anteil der Kantone nach Einwohnerzahl aufgeschlüsselt wird. Die erste Phase koste einen Betrag im tiefen einstelligen Millionenbereich. Diese Frage, sowie jene nach der IT-Sicherheit spielt sicher eine zentrale Rolle bis zur Realisierung 2026.