Im Mai 2016 hat die global tätige US-Anwaltskanzlei Baker & Hostetler gemeinsam mit IBM den weltweit ersten «virtuellen Anwalt» in ihrer Kanzlei willkommen geheissen. ROSS, so sein Name, basiert auf der KI-Technologie (Künstliche Intelligenz, abgekürzt KI) von IBM Watson. Vor wenigen Monaten hat ROSS gar eine virtuelle Kollegin namens EVA erhalten. Auch die britische Anwaltskanzlei Riverview Law hat mit KIM eine digitale juristische Assistentin kreiert, welche die In-House Counsels bei der Arbeit unterstützt. In der Schweiz hat die Coop Rechtsschutz AG als erste Rechtsschutzversicherung, gemeinsam mit IBM, zwei Projekte lanciert, die der Verfasser dieser Zeilen leiten durfte und welche die Möglichkeiten von KI-gestützter Rechtsberatung eruieren.
Künstliche Intelligenz ist als Oberbegriff zu verstehen, welcher alle Forschungsfelder beschreibt, die sich mit der Erbringung menschlicher Intelligenzleistungen durch Maschinen beschäftigen. Darunter fallen auch künstliche neuronale Netzwerke, welche dank leistungsfähiger Hardware und grossen zur Verfügung stehenden Datenmengen in den letzten Jahren entsprechend grosse Fortschritte im Bereich des maschinellen Lernens machen konnten.
Im Kern von KI-Systemen stehen Algorithmen, also «in einzelne Schritte heruntergebrochene Anweisungen, die von einem Computer maschinell abgearbeitet werden können und in Software abgebildet sind sowie Daten, die von ebenjenen Systemen verarbeitet werden».[1] Den Daten wird hierbei eine besonders eminente Rolle zuteil, da sie quasi den «Baustoff» für ein KI-System bilden, welches aus den implementierten Daten schliesslich ein Muster repliziert.
Die Beschaffung ebendieser juristischer Trainingsdaten stellt derweil eine erste Hürde für den Einsatz von KI in der Rechtsberatung dar. Will man bspw. eine auf KI basierende Bilderkennungssoftware lernen lassen, was eine Katze ist, so stehen im Internet Millionen von Katzenbilder zur freien Verfügung. Juristische Datensätze sucht man in dieser Fülle vergebens. Anwaltliche Schweigepflicht, Datenschutz und das Fehlen einer frei zugänglichen Online-Datenbank, auf welcher bspw. sämtliche Gerichtsurteile zu finden sind, machen einem einen Strich durch die Rechnung.
Wenig überraschend entpuppt sich auch die menschliche Sprache als weitere Herausforderung bei der Etablierung von KI in der Rechtsberatung. Obwohl Rechtsschriften für gewöhnlich relativ formell verfasst werden, kennt die Jurisprudenz keine zwingende, formale Sprache, die etwa mit einem Programmcode vergleichbar wäre. Darüber hinaus kann die Tätigkeit eines Juristen nicht auf die juristische Sprache beschränkt werden, weil der dargelegte Sachverhalt, die Dokumente des Mandanten und damit die relevanten Daten, die vom Mandanten an den Juristen herangetragen werden, nur selten auf juristische Sprache oder Formalitäten Rücksicht nehmen. Sie liegen meist unstrukturiert und in natürlicher Sprache vor.
Hinzu kommen die Eigenheiten und Finessen der menschlichen Sprache. Oren Etzioni, Leiter des AllenInstituts für KI in Seattle, erklärt, dass KI-Systeme z.B. sogenannte Winograd-Sätze nicht verstehen. Diese unterscheiden sich meist nur in einem Begriff und benötigen jede Menge Hintergrundwissen, um sie korrekt zu interpretieren. Man nehme als Beispiel folgende Sätze: «Die Behördenvertreter haben den Demonstranten verboten, sich zu versammeln, weil sie Gewalt befürworteten» und «Die Behördenvertreter haben den Demonstranten verboten, sich zu versammeln, weil sie Gewalt fürchteten.» Während es für ein KI-System sehr schwierig herauszufinden ist, auf wen sich die Wörter «befürworteten» und „fürchteten“ beziehen, stellt dies für einen menschlichen Leser kein Problem dar. «Der Umfang unseres impliziten und expliziten Wissens ist immens. Maschinen sind damit schnell überfordert», so Etzioni.[2]
Doch in der juristischen Tätigkeit geht es oft genau um solche sprachlichen Finessen, Unterschiede und Details, die auch Interpretationen zulassen und je nachdem ein Urteil in die eine oder andere Richtung kippen lassen können.
Im Februar 2018 wurde eine Studie veröffentlicht, für welche 20 in den USA ausgebildete Anwälte mit langjähriger Berufserfahrung gegen den KI-Algorithmus von LawGeex angetreten sind, um Mängel in fünf Non-Disclosure-Agreements zu erkennen. Insbesondere im angelsächsischen Raum bilden Non-Disclosure-Agreements eine vertragliche Grundlage für die meisten Geschäftsabschlüsse. Die Anwälte konkurrierten in diesem Experiment gegen ein KI-System, das drei Jahre lang entwickelt und mit zehntausenden von Verträgen trainiert wurde. Nach umfangreichen Tests erreichte das KI-System von LawGeex eine durchschnittliche Genauigkeitsrate von 94%, wohingegen die Anwälte lediglich auf 85% kamen – spannend ist indessen, dass der beste Anwalt ebenfalls 94% erreicht hat, der schlechteste jedoch nur 67%.[3]
Und die Entwicklung geht weiter. CMLR-Systeme greifen jene Domänen an, welche Juristen bisher als besondere Stärke ihrer eigenen Fähigkeiten hervorgehoben haben. Bei Computional models of legal reasoning and legal argument geht es um die Programmierung von Systemen, die fähig sind, juristische Argumente aus einem Datensatz zu extrahieren, eine Sachverhaltsanalyse zu machen und damit den Ausgang von Verfahren vorauszusagen, also um evidenzbasiertes, logisches, juristisches Denken und Argumentieren. Klassische Kernkompetenzen eines Juristen.
Auch wenn die sprachlichen Hürden sowie die Qualität und Verfügbarkeit von Datensätzen im jurstischen Bereich die Leistungsfähigkeit von KI-Tools heute noch stark einschränken, ist davon auszugehen, dass Fortschritte weiterhin sprunghaft und nicht linear verlaufen werden. Dies rechtfertigt auch die Verwendung des mittlerweile etwas abgegriffenen Begriffs der Disruption. KI ist in der Tat eine Technologie mit Disruptionspotenzial. Sie wird vorerst keine Arbeiter ersetzen – Arbeiten hingegen schon. Auch im juristischen Bereich. Und auch dort, wo kognitive Fähigkeiten gefragt sind. Zuerst in kleinen, eng abgesteckten Domänen. Mit genügend Ressourcen lassen sich diese Domänen aber stetig weiter ausbauen.
Wir Juristen tun deshalb gut daran, uns mit der Materie auseinanderzusetzen und die neuen Möglichkeiten auszuloten. KI wird die Art und Weise wie Rechtsdienstleistungen erbracht werden nachhaltig und kontinuierlich verändern. Richtig eingesetzt, wird sie Juristen ermöglichen, die Qualität der eigenen Arbeit weiter zu steigern. KI wird dabei aber auch den Kern unseres Selbstverständnisses treffen und uns neu darüber nachdenken lassen, wer wir sind und was unsere Bestimmung ist.
[1] Stephan Breidenbach, Florian Glatz (2018). Rechtshandbuch Legal Tech. S. 48.
[2] Ulrich Eberl (2016). Smarte Maschinen: Wie Künstliche Intelligenz unser Leben verändert.
[3] https://www.lawgeex.com/AIvsLawyer/.