Nach einem Jurastudium ist der naheliegende Approach Rechtsanwalt zu werden. Allerdings lassen sich diverse andere spannende und wichtige Wege beschreiten. Wohin diese führen, ist oft von vielfältigen Interessen und dem Zufall gelenkt. So war es zumindest bei Prof. Bertil Cottier. Ein Plädoyer dafür, die Karriere nicht durchzuplanen und Chancen spontan zu ergreifen.
Ihr Weg führte Sie nach dem Studium ins Bundesamt für Justiz. Diese erste gewichtige Station im CV war nicht geplant?
Bertil Cottier: Nach meiner Dissertation suchte das Bundesamt für Justiz einen Sekretär der Gesamtmedienkommission. Diese hatte die Aufgabe, einen Überblick des Medienrechts zu machen. Damals, in den 80er-Jahren, wandelte sich die Medienlandschaft gerade von einer von Monopolisten dominierten hin zu einer Öffnung für private Anbieter von Radio und auch TV. Der Job in der Medienkommission war sehr interessant. Beim Bundesamt für Justiz agiert man in der Nähe der Politik. Man muss die Gesetzgebung prüfen, kann Vorschläge einbringen, bekommt politisch heikle Entscheidungen hautnah mit. Mir hat die Dynamik gefallen, oft sind Stellungnahmen für Entscheidungen des Bundesrates innerhalb von 48 Stunden abzuliefern. Und als Romand fand ich es auch interessant mit Deutschschweizer Kollegen zu arbeiten.
Sie haben sich damals sowohl mit Medienrecht als auch mit Datenschutzrecht befasst. Das eine bedingt eine grosse Offenheit, das andere eher eine restriktive Einstellung.
Bertil Cottier: Ich habe damals das erste Radio- und Fernsehgesetz mitgestaltet, sowie das internationale Abkommen in dem Bereich, was meine erste Verbindung zum Europarat in Strassburg war. Dass ich mich relativ parallel mit dem ersten umfassenden Gesetz zum Datenschutz befasst habe, war in der Tat etwas kontradiktorisch: Eine Hälfte der Woche beschäftigte ich mich mit dem Informationsrecht und musste sehr offen denken. In der anderen Hälfte der Woche erforderte der Datenschutz eher Restriktion. Mir hat diese Flexibilität gut getan.
Wie wichtig ist Ihre Tätigkeit als Vorsitzender der Schweizer Sektion von RSF (Reporter sans Frontières) in Krisenzeiten wie unseren? Wie wird etwa die neutrale Information gewährleistet?
Bertil Cottier: Wir haben bei RSF ein Auge auf dem Ausland, beobachten, was in den Ländern passiert, in denen die Lage schwierig ist. Ebenso haben wir ein Auge darauf, was in der Schweiz passiert. Auch hier gibt es kleine Anzeichen und Tendenzen, dass sich die Lage seit der Covid-Pandemie angespannt hat. Während der Demonstrationen der Impfgegner wurden auch Journalisten attackiert. Auch die Polizei ist nervös geworden und ist mit Journalisten nicht zimperlich umgesprungen. Solche Gewalt gab es früher nicht. Bei investigativen Journalisten besteht die Problematik darin, dass das Parlament ihre Tätigkeit begrenzt z.B. durch das Bankengesetz. All das beobachten wir und bringen uns im Bedarfsfall ein.
Sie sind auch Member of the European Commission against Racism and Intolerance: Was haben Sie im Laufe Ihrer Tätigkeit in dem Gremium bereits verwirklichen können?
Bertil Cottier: In Europa wachsen Rassismus und Intoleranz merklich. Ich bin in dieser Kommission «member in respect of Switzerland». Jeder europäische Staat entsendet ein Mitglied, das nicht Vertreter seines Landes ist, sondern ein unabhängiger, gewählter Experte bzw. eine Expertin. Als Schweizer Mitglied befasse ich mich mit allen Staaten ausser der Schweiz. Nächste Woche zum Beispiel reise ich für ein Monitoring nach Serbien. Während einer Woche treffen wir die Behörden, Mitglieder des Parlaments und Vertreter der NGOs. Wir geben konkrete policy recommendations zu gewissen Themen ab, bspw. zur vorherrschenden Islamophobie oder Hate speech.
Welche Persönlichkeitseigenschaft und welche Charakterzüge sind in dieser heiklen Funktion besonders wichtig?
Bertil Cottier: Man muss sachlich sein und ein wenig, aber nicht zu emotionell. Das Team besteht aus fast 50 Kolleg:innen, die aus unterschiedlichen Kulturen kommen, unterschiedliche Lebensarten verkörpern. Anpassungsfähigkeit ist in solch einer Gruppe wichtig, dass man selbst auch tolerant ist. Mir kommt hier zugute, dass ich Halbschwede, Halbschweizer bin. Dadurch ist mir das Verständnis unterschiedlicher Kulturen immanent. Und ich spreche mehrere Sprachen, was die Verständigung zusätzlich leichter macht.
Sie waren auch 15 Jahre am Schweizerischen Institut für Rechtsvergleichung tätig. Hilft diese Erfahrung?
Bertil Cottier: Ich war dort zunächst Vizedirektor, später Direktor dieser Institution, die sich mit den Gesetzen aus aller Welt – ausser der Schweiz – befasst. Die umfassende Bibliothek und die Kollegen aus aller Welt schürten sicher Verständnis.
Als einstiger Dekan der Fakultät für Kommunikationswissenschaften an der Universität Lugano haben Sie unzählige Studierende ausgebildet. Welchen Rat geben Sie Studierenden gern mit auf den Weg, die gerade die Weichen für die berufliche Zukunft stellen?
Bertil Cottier: Seid so flexibel wie möglich. Die juristische Karriere muss nicht vorab bis ins Detail geplant werden. Es ergeben sich Opportunitäten, die soll man couragiert ergreifen. Bei mir haben viele Zufälle dafür gesorgt, dass eines zum anderen geführt hat – auch die Stelle als Dekan einer neuen Uni in Lugano. Die Fakultät für Kommunikationswissenschaften, der ich vorstand, setzte sich aus Kolleg:innen aus Fächern wie Soziologie, Semiologie oder Politikwissenschaften zusammen. Gewisse Schritte einer Karriere muss man vor allem planen, wenn etwas schief geht. Jurist:innen sind häufig schematisch orientiert. Das birgt die Gefahr, sich tollen Optionen von vornherein zu verschliessen.