«Law and Economics» in der juristischen Ausbildung

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Law and Economics: rechtsökonomische Denkansätze und ihr Einfluss 

Aufgrund des weitreichenden Einflusses rechtsökonomischer Denkansätze (Law and Economics) auf die Ausgestaltung und Durchsetzung von rechtlichen Normen und gerichtlichen Entscheidungen könnte man sagen, dass dieser Bereich das «legal thinking» revolutioniert hat. Allenfalls könnte er sogar als die wichtigste jüngere Entwicklung im Rechtsbereich gelten. Diese Glorifizierung soll hier einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Rechtsökonomische Denkansätze bilden seit jeher einen festen Bestandteil der juristischen Ausbildung an US-amerikanischen (Spitzen-)Universitäten und sind dementsprechend nicht mehr aus deren Aus- und Weiterbildungsprogrammen wegzudenken.  Mit dieser Methode kamen auch Schweizer Juristinnen und Juristen in Berührung, die sich für einen LL.M.-Studiengang (Master of Laws) im angelsächsischen Raum entschieden haben.  

Mit der Universität St.Gallen führte 2003 erstmals eine schweizerische Hochschuleinrichtung einen eigenständigen Studiengang in «Law and Economics» ein. Das St.Galler Verständnis von «Law and Economics» prägte auch die Verfasser dieses Textes – einen ehemaligen und einen aktuellen Absolventen dieser Schule.

Moderner St.Galler Ansatz

Der St.Galler Law-and-Economics-Ansatz verfolgt die Integration von Methoden und Theorien beider Disziplinen, die in der praxisorientierten, holistischen Betrachtung der Regelungs- und Gestaltungsfragen in Bezug auf Märkte und Unternehmen resultieren. Um diese Integration der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften zu bewerkstelligen, werden wirtschaftsrelevante Theorien und Teildisziplinen aus den Wirtschaftswissenschaften – wie etwa die klassische ökonomische Analyse des Rechts und die Neue Institutionenökonomik – und aus der Rechtswissenschaft – wie beispielsweise aus dem Gesellschafts-, Rechnungslegungs- und Steuerrecht, der Finanzmarktregulierung sowie dem Recht der Streitbeilegung – gewinnbringend herangezogen. Das St.Galler Verständnis von «Law and Economics» wurde allerdings in Bezug auf die Rechtspraxis bewusst breiter gefasst. Neben der Integration von ökonomischen Methoden in der juristischen Ausbildung liegt der Fokus ferner auf der Vermittlung von ökonomischem Grundlagenwissen aus dem betriebs- und volkswirtschaftlichen Bereich. 

Ausgewählte Anwendungsbereiche (die Praxis)

Trotz anfänglicher Gegenwehr mancher Juristinnen und Juristen gegen den Einzug der Ökonomie in die Jurisprudenz konnte sich der Law-and-Economics-Ansatz mittlerweile ebenfalls in Europa und insbesondere auch in der Schweiz im akademischen Diskurs etablieren. Der Anwendungsbereich rechtsökonomischer Denkansätze erstreckt sich unterdessen auch hierzulande auf zahlreiche Rechtsgebiete, namentlich das Haftpflichtrecht, Vertragsrecht, Gesellschaftsrecht und Steuerrecht.

Spannungsfelder und Gegensätze

Der Begriff «Law and Economics» verdeutlicht bereits einen impliziten Zusammenhang zwischen den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, wonach diese beiden Fachrichtungen in einer harmonischen Beziehung zueinander stehen und somit (vermeintlich)  auf gleicher Stufe anzusiedeln sind.  Die Rechtswissenschaft beruht dabei auf einer pluralistischen Axiologie, die sich nach verschiedenen Werten und Schutzgütern richtet, die alle für sich allein betrachtet normative Geltung beanspruchen und somit oftmals im Widerspruch zueinander stehen. Die aufgrund der Wertantinomien entstehenden Spannungsverhältnisse werden dabei anhand von Abwägungsvorgängen gelöst, da klare Kollisionsnormen oftmals fehlen. Demgegenüber orientieren sich die Wirtschaftswissenschaften am analytisch zu ermittelnden Effizienzkriterium und damit einhergehend an den niedrigsten Kosten. 

Das Verhältnis von Rechts- und Wirtschaftswissenschaften lässt sich – immerhin, wenn auch etwas zugespitzt – auf den Vergleich von Gerechtigkeit und Effizienz herunterbrechen. Demzufolge bilden die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften zwar jeweils eine eigene Disziplin, mit eigener Methodologie und wissenschaftlicher Sprache, doch ist eine sinnvolle und gewinnbringende Kommunikation und Kooperation zwischen diesen beiden Teildisziplinen durchaus möglich. Damit wird die Interdisziplinarität des Law-and-Economics-Ansatzes angesprochen.

Ein illustratives Beispiel zur Verdeutlichung des interdisziplinären Verhältnisses von Rechts- und Wirtschaftswissenschaften im Law-and-Economics-Ansatz gegenüber einem traditionellen, juristischen Verständnis ist das Gedankenexperiment von RONALD H. COASE zum Konflikt von Ackerbau und Viehzucht. Wer hat den Schaden zu tragen, wenn streunendes Vieh das Getreide auf dem Feld beschädigt? Aus Sicht der Rechtswissenschaft besteht für den Ackerbauer unzweifelhaft ein Schadenersatzanspruch, sofern der Viehzüchter den Schaden widerrechtlich und schuldhaft zugefügt hatte. Demgegenüber ist bei der rechtsökonomischen Denkweise die Erfüllung des Effizienzkriteriums von entscheidender Bedeutung. Im Ergebnis bedeutet das, dass der «cheapest cost avoider» den Schaden zu tragen hat. Sollte es für den Ackerbauern günstiger sein, das Feld einzuzäunen, als für den Viehzüchter, das Vieh zurückzuhalten, hat der Ackerbauer den Schaden entsprechend zu tragen. Nicht jede Juristin und nicht jeder Jurist mit traditioneller Ausbildung wird jedoch ohne Weiteres geneigt sein, dieser Konfliktlösungsregel zuzustimmen.

Zukunftsperspektiven

Wie steht es nun um die Bedeutung von rechtsökonomischen Denkansätzen und Methoden im deutschsprachigen Raum? Im Ausgangspunkt muss klargestellt werden, dass es den einzig wahren rechtsökonomischen Denkansatz nicht gibt, sondern viele verschiedene Ansätze mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Schattierungen. Der moderne St.Galler Ansatz etwa nimmt eine systematische Verknüpfung von juristischen und ökonomischen Erkenntnissen und Theorien vor.

Nicht nur im Haftpflichtrecht, sondern auch im Vertragsrecht sowie im Gesellschaftsrecht und im Steuerrecht stossen ebendiese Ansätze auf fruchtbaren Boden, zumal der rechtliche Rahmen in diesen Rechtsgebieten nicht unwesentlich von wirtschaftlichen Überlegungen bestimmt wird. Das Schweizerische Bundesgericht übt sich indessen grösstenteils in Zurückhaltung. Der Einbezug von Argumenten rechtsökonomischer Natur wäre aber gerade in den erwähnten, ökonomisch sehr stark geprägten Rechtsgebieten durchaus wünschenswert.

Wie bei einer interdisziplinären Arbeitsweise im Allgemeinen kommen auch rechtsökonomische Denkansätze nicht ohne Spannungsfelder und Gegensätze aus. In diesem Bereich spitzt sich der Zielkonflikt häufig, aber nicht notwendigerweise, auf die beiden Dimensionen der Gerechtigkeit und der Effizienz zu. Rechtsökonomische Überlegungen überzeugen aber etwa bei der Ausarbeitung von Lösungsstrategien zur Bewältigung von «aktuellen» Herausforderungen, beispielsweise bei der Bekämpfung des Klimawandels. Die momentanen und zukünftigen gesellschaftlichen Herausforderungen weisen zunehmend komplexer werdende Sachverhaltsstrukturen auf, die nicht (mehr) isoliert betrachtet werden können. Um ihnen effektiv zu begegnen, wird eine interdisziplinäre Herangehensweise, also der Einbezug von Fachwissen und Erkenntnissen verschiedener Disziplinen, unausweichlich. Im Rechtsbereich hat sich in den vergangenen Jahrzehnten mit «Law and Economics» ein eindrucksvolles und leistungsstarkes Konzept entwickelt, das sich in Ergänzung zur klassischen Jurisprudenz in vielerlei Hinsicht etablieren konnte.

Interdisziplinäre Ausbildung

Im deutschsprachigen Raum zeigt sich ausserdem, dass rechtsökonomische Denkansätze zunehmend auch im Rahmen der juristischen Ausbildung umgesetzt werden. Viele Hochschulen in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich bieten heute eine interdisziplinäre Ausbildung in Recht und Ökonomik an. «Law and Economics» ist daher zweifellos in der juristischen Ausbildung angekommen und erfreut sich einer wachsenden Beliebtheit, was sich zumindest an der konstant steigenden Studierendenanzahl in den rechtsökonomischen Studiengängen der Universität St.Gallen ablesen lässt. Ob «Law and Economics» als radikale Revolution (traditioneller US-amerikanischer Ansatz) oder als natürliche Evolution (moderner St.Galler Ansatz) einzustufen ist, muss an dieser Stelle nicht abschliessend beurteilt werden. Die ökonomische Prägung zahlreicher Rechtsgebiete und die unzähligen Schnittstellen zwischen Rechts- und Wirtschaftswissenschaften begünstigen jedenfalls rechtsökonomische und interdisziplinäre Denkansätze. Interdisziplinarität erfordert allerdings Methodenoffenheit, was einer einseitigen Priorisierung der ökonomischen Methode entgegensteht. Insofern gilt es auch im Hinblick auf die juristische Ausbildung zu verhindern, dass die Revolution ihre eigenen Kinder frisst.