Digitalisierung im Strafrecht

Switzerland

Digitalisierung im Strafrecht

Quelle: iStock

Wo eignet sich Legal Tech im Strafrecht

Der Legal Tech Markt ist in Bewegung. Insbesondere bei repetitiven und standardisierten Prozessen (wie z.B. Dokumentprüfungen, Gesellschaftsgründungen, Vertragsvorlagen) werden Tools eingesetzt, welche die Arbeit von Juristen übernommen haben. Zudem nutzen Anwälte mittlerweile digitale Werkzeuge, die ihnen in ihrer täglichen Tätigkeit die Arbeit erleichtern (elektronische Aktenführung, elektronische Eingaben, Anwaltssoftware, etc.). Doch wie sieht es im Strafrecht aus?

Ein erster Schritt 

Lange waren Strafrechtler der Meinung, dass sich Legal Tech im Strafrecht nicht etablieren wird. Ein Strafverteidiger muss an Beweiserhebungen wie Befragungen teilnehmen, Zeugen und Beschuldigten Fragen stellen, Akten studieren, Plädoyers vorbereiten, Beschwerden schreiben und vor Gericht auftreten. Mit anderen Worten ist seine Präsenz gefordert und ein menschliches Handeln notwendig.

Allerdings existiert im Strafrecht ein Bereich, der sich als Massengeschäft für standardisierte Prozesse eignet: das Strafbefehlsverfahren. Mehr als 85 % der Verurteilungen werden mittels Strafbefehl erledigt. Meist finden keine Befragungen der Beschuldigten durch die Staatsanwaltschaft statt. Auch der Sachverhalt wird häufig nur aufgrund der rudimentären Abklärungen der Polizei oder im Bereich Strassenverkehr gestützt auf Radarbilder abgeklärt. Auf dieser Basis werden Strafbefehle erlassen. Die Staatsanwälte sehen die Strafbefehle nur als Vorschlag an. Die Bürger und Bürgerinnen verlassen sich allerdings auf die Einschätzung der Staatsanwälte und gehen kaum gegen Strafbefehle vor. Je nach Kanton liegt die Einsprachequote üblicherweise zwischen 5 und 12 %. Häufig werden die Strafbefehle auch nicht verstanden, sei es sprachlich oder hinsichtlich der Konsequenzen. Manch einer dürfte gestaunt haben, dass ihm nach dem Erhalt des Strafbefehls auch der Führerausweis entzogen wurde oder dass plötzlich ein Eintrag im Strafregister vorhanden war.

Eine Einsprache gegen einen Strafbefehl zu erheben ist zwar im Grunde einfach, doch als Bürgerin und Bürger kommt man nicht so leicht an die Verfahrensakten heran. Diese kann man nur vor Ort bei der Staatsanwaltschaft einsehen und Kopien müssen zu einem nicht ganz günstigen Preis bezahlt werden. «Access to justice» sieht anders aus. So ist die Idee entstanden, den Rechtssuchenden ein Tool anzubieten, mit welchem sie einfach eine Einsprache erheben und die Akten einsehen können. Und das zu einem fairen Fixpreis. Einen Anwalt herbeizuziehen, wäre zwar häufig nötig, scheitert aber an den befürchteten Kosten.

Schweizer Einsprache-Tool

Das Tool einsprache-strafbefehl bietet in der Schweiz eine Dienstleistung, die den Rechtssuchenden die Einsprache gegen einen Strafbefehl abnimmt. Man kann über diese Seite den Strafbefehl hochladen und den Pauschalpreis von CHF 100.– mittels Kreditkarte bezahlen. Daraufhin erhält der Kunde die Vollmacht zur Unterzeichnung und kann diese erneut per E-Mail oder über einen gesicherten Link der Kanzlei zustellen. Daraufhin erhebt die Kanzlei die standardisierte Einsprache und verlangt die Verfahrensakten ein. Sobald diese eingehen, werden sie durchsuchbar gescannt und dem Kunden über einen gesicherten Link zugestellt. Der Kunde kann anschliessend entscheiden, ob er an der Einsprache festhalten will oder nicht. Der Rückzug der Einsprache ist im Pauschalpreis inbegriffen.

Falls der Kunde eine Chanceneinschätzung wünscht, wird ihm diese ebenfalls für einen Pauschalpreis angeboten. Falls der Fall weitergeführt wird, erfolgt eine Verteidigung nach den üblichen Honoraransätzen.

Erfahrungsstand

Die bisherigen Erfahrungen mit diesem Tool sind als positiv einzustufen. Bei einigen Strafbefehlen bestand Verbesserungspotenzial bzw. ergaben sich erfolgversprechende Verteidigungschancen. Natürlich sprechen wir hier nicht von einer technisch neuen oder komplizierten Dienstleistung. Aber es ist ein erster Schritt in Richtung Digitalisierung im Strafrecht. Vielleicht werden die Strafbefehle und die dazugehörigen Akten bald mit künstlicher Intelligenz (KI) geprüft und die Verteidigungschancen aufgezeigt. Eine «echte» Strafverteidigerin mit Empathie ausgestattet und als moralische Unterstützung wird aber wohl (für komplexere Fälle) noch für längere Zeit benötigt werden.