Wesentliche Fragen
Wem kann eine Geheimhaltungspflicht auferlegt werden? Wer darf sie anordnen und mit welchem Inhalt? Wie sind die Anforderungen an Begründung und Form? Und welches die Voraussetzungen und die Grenzen? Dies sind wesentliche Fragen, welche sich um die Geheimhaltungsverpflichtung im Strafprozess drehen.
Grundsätzliches
Im Gerichtssaal ist der Strafprozess grundsätzlich öffentlich. Das Vorverfahren, in welchem Erhebungen getätigt und Beweise gesammelt werden und der Staat dem vermutungsweise unschuldigen Bürger zu diesem Zweck mit Zwangsmassnahmen entgegentritt, ist indes nicht öffentlich. Allerdings stehen dem Beschuldigten, der Privatklägerschaft sowie allenfalls weiteren Verfahrensbeteiligten Akteneinsichts- und Teilnahmerechte zu. Das Vorverfaren ist parteiöffentlich. Oder anders gewendet: Geheim ist das Vorverfahren nur gegenüber Dritten, den Medien und der Öffentlichkeit. So begehen die Mitglieder von Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichten (und ihr Personal) sowie von Strafbehörden eingesetzte Sachverständige und deren Hilfspersonen und auch beigezogene Übersetzerinnen eine Amtsgeheimnisverletzung, wenn sie ihnen im Rahmen des Strafverfahrens zugetragene oder erhobene Geheimnisse preisgeben.
Demgegenüber untersteht namentlich die Privatklägerschaft als private Partei a priori keiner gesetzlichen, strafbewehrten Geheimhaltungspflicht. Damit stellt sich die Frage: Darf sie mit potenziellen Zeugen in Kontakt treten und/oder ihren Standpunkt medial ausbreiten, bevor die wesentlichen Beweismittel erhoben worden sind – und in Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung den Beschuldigten gegenüber Dritten und gegebenenfalls in der Öffentlichkeit vorverurteilen?
Art. 293 StGB stellt die Veröffentlichung amtlicher geheimer Akten, Verhandlungen und Untersuchungen unter Strafe, setzt also voraus, dass Geheimnisse einem grösseren Personenkreis zur Kenntnis gebracht werden. Zu denken ist etwa an einen Abdruck von Einvernahmeprotokollen in (Massen-)Medien. Die Strafnorm richtet sich aber an jedermann, mithin auch an die Privatklägerschaft. Allerdings ist die Weitergabe von Geheimnissen an einzelne Personen nicht erfasst. Aus diesem Grund wurde mit Art. 73 Abs. 2 StPO eine gesetzliche Regelung geschaffen, um die Privatklägerschaft, andere Verfahrensbeteiligte sowie deren Rechtsbeistände im Interesse der Strafverfolgung oder zum Schutz privater Interessen zur Geheimhaltung zu verpflichten. Damit kann drohenden Indiskretionen, allem voran durch die Privatklägerschaft, ein Riegel geschoben werden. Während Geheimhaltungspflichten gemäss Art. 293 StGB generell und von Gesetzes wegen gelten, sind Geheimhaltungspflichten gestützt auf Art. 73 Abs. 2 StPO durch die Verfahrensleitung aus konkretem Anlass – mithin punktuell – zu verfügen.
Handhabung in der Praxis
Betrachtet man die Rechtsprechung zu Geheimhaltungspflichten im Strafprozess, so scheinen die Hürden für eine Anordnung relativ hoch und die Gerichtspraxis in der Schweiz eher restriktiv zu sein. Es bedarf aussergewöhnlicher Umstände, aus denen sich schliessen lässt, dass eine wirksame Strafuntersuchung, insbesondere die Durchführung geplanter Beweiserhebungen, konkret gefährdet ist. Die kantonale Rechtsprechung setzt die Hürde, vor allem wenn es um den Schutz der Unschuldsvermutung bzw. der Persönlichkeitsrechte eines Beschuldigten geht, tendenziell zu hoch an. Erfahrungsgemäss wird die Anordnung von Geheimhaltungspflichten bei den Staatsanwaltschaften indes weniger restriktiv gehandhabt – nach Auffassung der Autoren zu Recht.
Verfügungen nach Art. 73 Abs. 2 StPO sind vor allem dann angezeigt und erfolgversprechend, wenn die Anordnung vor der Erhebung der hauptsächlichen Beweismittel und der wesentlichen Zeugenbefragungen ergeht. Von den Medien regelmässig und gerne als «Maulkorb» verschrien, ist zu beachten, dass das Instrument der Geheimhaltungsverpflichtung gar nicht so häufig eingesetzt wird, zumal Medienberichterstattungen alleine für die Anordnung nicht ausreichen und Geheimhaltungsverpflichtungen durchaus zur Entspannung bzw. effizienterer Führung von Verfahren ohne Störmanöver führen können.
Die Autoren plädieren für weniger Zurückhaltung bei der Beantragung und für eine grosszügigere Praxis bei der Anordnung vom Geheimhaltungspflichten – im Interesse des Strafverfahrens und meist auch der Persönlichkeitsrechte des Beschuldigten.